Der Elefant

by Theos

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Es gab bestimmte Dinge, die gab es nicht. Eigentlich gab es sie nicht, es konnte sie gar nicht geben,schon rein theoretisch nicht, obwohl nun einmal festzustehen schien, daß es sie auf alle Fälle gab …

Das Paradebeispiel für ein solches Ding war der Elefant. Natürlich gab es Elefanten, sie waren hier, sie waren dort, er hatte auch schon selbst mit eigenen Augen einen Elefanten gesehen, im Zoo. Begutachtet hatte er ihn, betrachtet, fixiert – mißtrauisch und befremdet, innerlich beständig den Kopf schüttelnd, skeptisch. Natürlich sah er da diesen Kerl, der also angeblich ein Elefant sein sollte, akzeptierte ihn nach außen hin auch und sprach mit anderen Leuten von ihm als von einem Elefanten. Aber keine noch so offensichtliche physische Präsenz, kein elefantisches Benehmen oder gar Aussehen konnte das Gefühl in ihm für einen Augenblick auslöschen, daß es keinen Elefanten gab, daß es keinen Elefanten geben konnte! Zugegeben, dieser Jemand versuchte entschieden, ein Elefant zu sein, und er hatte es darin einigermaßen weit gebracht; aber das, was einen Elefanten wirklich ausmachte, das Elefantischste, die entscheidenden Charakteristika des Elefanten – ließ dieser graue Typ fast völlig vermissen. Und so stellte gerade er den besten Beweis für die ganze zerfahrene Situation, für die Absurdität, Lächerlichkeit und Unmöglichkeit des Elefanten dar: Er, der von allen Menschen als ein Elefant akzeptiert wurde, der genau diesen unbestimmbaren, geheimnisvollen Begriff „Elefant“ ausfüllen sollte, war doch so weit davon entfernt, ein Elefant zu sein, der Elefant zu sein, daß einen wild das Lachen durchschüttelte bei dem Gedanken, daß der vielbeschriebene, sagenumwobene Elefant! sich genau in diesem so einfach zu erfassenden Wesen verkörpern sollte…..

Als er sich mehr und mehr darüber klar wurde, daß er den Elefanten, den ihm die Welt als solchen anbot, nicht akzeptieren konnte, spürte er mit der Zeit ein immer stärker werdendes Gefühl von Verpflichtung. Verpflichtung, doch nun, wenn er schon den allgemeinen Elefanten nicht akzeptierte, dann wenigstens festzulegen, was für ihn einen Elefanten darstellen sollte. Er musste darüber nachdenken, was sein Bild vom Elefanten von dem des landläufigen, gemeinen Elefanten unterschied, was es ausmachte, und warum also der Elefant real nicht existierte, gar nicht existieren konnte! Lange fand er auf diese Fragen keine Antwort, doch dann lichteten sich die Nebel und er sah schließlich das Ergebnis seiner Überlegungen in Klarheit vor sich: Wofür stand der Elefant? Wie hatte er den Elefanten kennengelernt? Nun…. der Elefant… der Elefant… der Elefant…… DER ELEFANT!!! War es denn nicht so, daß man den Elefanten von Kind auf als einen Ganz Anderen kennengelernt hatte, als den Ganz Anderen schlechthin? Schon in den Kinderbüchern war er aufgetaucht, immer wieder, und er war dabei nicht zu vergleichen mit dem Hund, dem Wolf, der Raupe oder der Maus, die ebenfalls Protagonisten dieser Bücher waren, nein, der Elefant war immer etwas Besonderes gewesen! Es begann damit, daß es sehr leicht war, dem Elefanten einen Hauch von Komik zu verleihen. Ein großer, unförmiger Körper, riesige Ohren, eine unglaublich lange Nase und gutmütige Trägheit: Das bildete im Zusammenspiel eine Mixtur, die den Elefanten nicht nur sofort zum Sympathieträger machte, sondern auch zu einer komischen Figur. So war er im Fernsehen in einer Kindersendung als kugelförmige Gestalt in Blau aufgetaucht – kleiner als eine Maus, mit lustig blitzenden weissen Augen und einer hellen, prustenden Stimme! Verrückt war das, zum Schreien komisch! Und dies war nur eine von vielen komischen Darstellungen, die man vom Elefanten erhalten hatte…… Das „Am Ende der Schlauere Sein“ war der nächste entscheidende Charakterzug: Der Elefant als Siegertyp kam nie unter die Räder! Seine grinsende Unbeholfenheit und Einfältigkeit erwiesen sich als Schein. In Wirklichkeit trug er stets noch ein tieferes, überlegenes, ja geheimnisvolles Wissen in sich, das er, wenn es sein mußte, ausspielte und das ihm dann zum Sieg verhalf. Oft stellte der Elefant auch den Sieg des naiven Guten über das Böse dar. So hatte man ihn zum Beispiel in einer Rolle als Hobbydetektiv erlebt, der, mit einem Schal bekleidet, zusammen mit Kindergartenkindern den Ungerechtigkeiten des Alltags auf der Spur ist……. Besah man sich den Elefanten im Bild der Öffentlichkeit, so stellte man fest, daß er hier noch entschiedener den Ruf des Weisen hatte: „Dickhäutig wie ein Elefant“, das hieß nicht nur unempfindlich, sondern auch geistig überlegen, souverän, weise eben. Im Buddhismus wurde er sogar als weiser und deshalb glückseliger Gott verehrt. Obwohl man ihn als gefährliche Waffe einsetzen konnte, wie es etwa der antike Feldherr Hannibal gegen die Römer getan hatte, war sein eigentliches Wesen schwach und zerbrechlich, denn er war vom Aussterben bedroht. Und wertvoll war er: Einerseits wegen seiner kostbaren Elfenbeinzähne, andererseits als Lastenträger und Reittier, also als Freund und wichtiger Helfer des Menschen!

Man wusste also sehr viel über den Elefanten, hatte aber dennoch das Gefühl, ihn nicht wirklich zu kennen. Und das lag daran, dass die wichtigste und prägendste Eigenschaft des Elefanten die Exotik war. Der Elefant war der Prototyp eines Tieres, das in den hiesigen Breitengraden nicht anzutreffen ist: Auch wenn man noch so sehr nach ihm suchte, er hielt sich einfach nicht hier auf! Einem Bekannten war zwar einmal beim Joggen im Wald plötzlich ein Elefant entgegengekommen; es stellte sich jedoch heraus, dass dieser Elefant zu einem Wanderzirkus gehörte, der in der Nähe gastierte, und nur von seinem Betreuer ein wenig Gassi geführt wurde. Von solchen Ausnahmen abgesehen konnte man aber eindeutig konstatieren: Der Elefant war in Europa nicht heimisch! Unterschied man zwischen Tieren, die dem eigenen, vertrauten Lebensraum angehörten, und Tieren von anderswo – so dachte man an den Elefanten als den Vertreter der anderen, höchstens noch flankiert vom Rochen, Ameisenbär oder Schabrackentapier. Träumte man von einer Reise, Exotik pur, dem Aufbruch in eine andere Welt, dem Vergessen aller gewohnten, dem eigenen Lebenskreis angehörenden Dinge – dann stellte man sich den Elefanten als Garanten und Stellvertreter dieses Gedankens vor! Und immerhin: Wenn man tatsächlich die Reise unternahm, dann war der angebliche Elefant auch genau da, wo man ihn schon vorher im Prospekt gesehen hatte…… Bei uns war er jedoch nicht angesiedelt.

Insgesamt war das Bild des Elefanten also heterogen, unwirklich und absurd! Er verkörperte zu viele extreme Eigenschaften auf einmal, sodass man nicht glauben konnte, dass es ihn wirklich gab! Er erinnerte sich: Einmal hatte er mit Freunden vereinbart, dass immer, wenn einer ein gewisses „Losungswort“ aussprach, alle, echt oder gekünstelt, losbrüllen mußten vor Lachen. Damals hatte er unverständlicherweise länger nach einem passenden Losungswort gesucht und es waren drei Worte übriggeblieben: Ananas, Alaska und Elefant. Dachte er nun an Ananas und Alaska, so stand ohne längeres Überlegen fest: Es gab weder Ananas noch Alaska, es konnte sie gar nicht geben! Genau deswegen reizte ihn ja auch schon seit Langem der Gedanke, dieses so genannte Alaska oder das, was die Leute dafür hielten, zu bereisen: Dieses Sinnbild für das Ende der Welt, zu weit weg und zu unwirtlich, um es noch zur Welt zählen – aber doch zu real und geographisch lokalisiert, um es als ein Märchenland einzustufen! Was die Ananas betraf, so mußte man sagen, dass ihr Erscheinungsbild trotz ihres guten Rufes als Frucht geradezu blödsinnig und sinnlos war: Oben sah sie aus wie eine Palme, unten wie eine Handgranate! Er hatte sogar einmal von einer gekostet und mußte zu seiner Verwunderung feststellen, daß sie ihm sehr gut schmeckte; dennoch aß er danach nie mehr eine Ananas, denn im Grunde fürchtete er sich vor ihr und ihrer ins Aberwitzige gesteigerten Exotik. Es wunderte ihn auch nicht, als er von einer Freundin folgende Geschichte hörte: Deren Familie habe zu Zeiten des Kalten Krieges in Ostdeutschland gelebt. Als sie sie besuchen durfte, habe sie einige Lebensmittel, darunter eine Ananas, zu schmuggeln versucht. Als der Zöllner sie dabei ertappte, wollte er einen Teil der Geschenke für sich selbst, dann werde er keine Meldung erstatten, also sozusagen eine Art Korruptionssteuer. Da er die Ananas offenbar nicht kannte, schnitt er deshalb den oberen, grünen Teil ab und behielt ihn für sich, den unteren Teil, die Frucht, verstaute er wieder in ihrem Gepäck…… Kein Zweifel: Die Ananas war ein typischer Fall von etwas, das es eigentlich nicht gab, nicht geben konnte!

Aber zurück zum Elefanten: Der Begriff des Elefanten schien also als ein Platzhalter für alles Mögliche schon tief in ihm zu liegen. Kein Wunder, hatte man doch von Kindesbeinen an den Elefanten als einen Ganz Anderen präsentiert bekommen, der ein Geheimnis in sich trägt und wichtig ist! Der Elefant war nun einmal absurd, exotisch, fremd….. anders eben, der Ganz Andere schlechthin! Zu behaupten, der Elefant sei existent, greifbar, man kenne ihn – ja zu allem Überfluss auch noch zu behaupten, es handle sich um diesen dahergelaufenen, einfältig lächelnden grauen Rohling – und dieser Jemand sei nicht nur der Besagte, der sagenhafte Ganz Andere, sondern er verkörpere all die angesprochenen Eigenschaften: Das war im höchsten Maße abwegig!! Ausser ihm selbst schien das aber bisher nur ein einziger Mensch verstanden zu haben, nämlich der genialste Lyriker aller Zeiten Rainer Maria Rilke: Der hatte die Absurdität des Elefanten zum Sinnbild der Absurdität des ganzen Lebens gemacht in seinem Gedicht „Das Karussell“ mit dem Refrain: „…… und dann und wann ein weisser Elefant…..“ Ja! Das war es! Ein weißer! Auf einem Kinderkarussell!! Genial!

Begegnete ihm das Wort Elefant nun im Alltag, so wurde sein Drang, angesichts der Absurdität laut loszulachen, immer stärker. Vor allem, wenn er sich vor Augen hielt, was die anderen Leute unter einem Elefanten verstanden oder, noch urkomischer, wie sie ihn teilweise darstellten, musste er sofort loskichern! Wenn er dann tatsächlich lachte, fragte man ihn, worüber er lache. Anfangs versuchte er mehrmals, seine Sicht der Dinge darzustellen, die Absurdität des Elefanten auch den anderen aufzuzeigen und das Erlebnis dieser Absurdität mit anderen zu teilen. Die Sympathischeren und Höflicheren seiner Gesprächspartner sahen ihn dann lange schweigend an und gingen anschließend früh ins Bett. Die Mehrzahl aber entwickelte bei diesem Anlaß eine faszinierende Fähigkeit, ihm auf plastischste Weise durch anfängliche, gespielte Aufmerksamkeit und darauf dann folgende abrupte, zusammenhanglose Themenwechsel vor Augen zu führen, daß sie von seinen geistigen Fähigkeiten so viel hielten wie von Tuvalu als ständigem Mitglied im UNO-Sicherheitsrat.

Er ließ es also bleiben, den Menschen über die Absurdität des Elefanten zu erzählen und sie zu seinen Gedanken zu bekehren. Er wollte auch aufhören zu lachen, wann immer er das Wort Elefant hörte – doch dies gelang ihm umso weniger, je mehr ihn das ganze Thema beschäftigte. Vielmehr steigerte sich das Lachen zu ganzen Lachanfällen, lauten, unangenehmen, die nicht zu unterbinden waren, und auch das Nachdenken über den Elefanten ging nur noch unter einem beständigen Zucken seiner Bauchmuskulatur vonstatten. Den Leuten war dies zuwider, es war lästig, zu befremdlich….. Er war überhaupt für die Leute ein wahnsinnig befremdlicher Mensch, und es gab einige, die – so sagten sie es ihm selbst – schon bei dem Gedanken an ihn innerlich wild loslachen mussten! Er sei einfach so ganz anders als alle anderen, ein Ganz Anderer…… Ein urkomischer Typ, aber auch geheimnisvoll, ein Exot: Zwar war er hochintelligent, das wurde ihm von vielen bescheinigt; aber insgesamt wurde aus ihren Äußerungen auch klar, dass sie sich ihm fremd fühlten. Sie sahen ihn als Angehörigen eines ganz anderen sozialen Umfeldes an und machten sich deshalb nicht die Mühe, sich mit ihm und seiner absurden, unwirklichen Lebensweise länger auseinanderzusetzen. Wegen seines Elefanten-Spleens nannten sie ihn schließlich den „Elefanten“.