Der Erzengel

by Theos

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Sie hatten sich alle eingefunden zu einer schwarzen Messe der Unentschlossenen.

Denn eigentlich keiner der Anwesenden hatte weitergehende Erfahrung mit schwarzen Messen, vielmehr hatte sie alle die Neugier getrieben, in einem Internet-Chat die Ausführung einer solchen Messe zu verabreden und nun das interessante Gebiet einmal auszuprobieren.

Ausgerüstet waren sie gleichwohl hervorragend, denn etliche der Teilnehmer hatten sich eigens für diese Veranstaltung passende Kleidung ausgeliehen oder gar gekauft, nicht zuletzt, um sich durch das Ausgeben von Geld zur Ausführung weitgehender Taten zu motivieren. Denn wenn man nun schon dafür gezahlt hatte, dann wäre es doch unvernünftig, diesen Vorbereitungen nicht auch die wildesten Ausschweifungen folgen zu lassen, sozusagen der Hingabe des Geldes nicht auch die Hingabe an die Durchführung folgen zu lassen, so argumentierten sie für sich selbst. Getroffen hatten sie sich in einer Dorfkirche auf dem Land, die außerhalb des dazugehörigen Ortes lag und stets offenstand. Alle Teilnehmer hatten sich das Gesicht maskiert, um ihre Anonymität zu wahren, ansonsten aber waren sie, was ihre Kleidung betraf, für jede Demaskierung gerüstet, und nicht nur die Damen hatten ansprechende Dessous unter ihren weiten schwarzen Umhängen angezogen, um auch im Ernstfall gut auszusehen. Als sie sich nun aber im Dunkel der Nacht und der Kirche gegenüberstanden, breiteten sich erste Zweifel und Hemmungen unter den Satansjüngern aus, Gedanken daran, daß man ja das Auto unweit geparkt hatte und dessen Kennzeichen erkannt werden könnte und dergleichen Ängste vor Entdeckung mehr. So herrschte eine gewisse Unsicherheit, die nicht so recht zu einer schwarzen Messe passen wollte. Schon bei der Versammlung zu Beginn der Geisterstunde drängten sich die Teilnehmer an die Ränder der Kirche, in die dunklen Seitenaltäre, wo sie nicht etwa ihren dunklen Leidenschaften nachgingen, sondern nervös warteten, was passieren werde. Die Bereitschaft aber, an jeder Orgie und Entgleisung teilzunehmen, war durchaus vorhanden, und wer weiß wozu die Gesellschaft im Laufe der noch jungen Nacht noch fähig gewesen wäre…..

Die Lockerung der gespannten Atmosphäre begann jedoch denkbar ungünstig: Der Priester nämlich, ein prahlerischer Geltungssüchtiger, der sich im Chat für dieses Amt vorgedrängt hatte, um nur ja im Mittelpunkt zu stehen und einmal die Macht innezuhaben, hatte beim Einkauf eines lebenden Hahnes, der als Blutopfer dargebracht werden sollte, seine inneren Bedenken letztlich nicht überwinden können. Deshalb hatte er in einem Scherzartikelladen ein gerupftes Huhn aus Gummi erstanden, das er nunmehr mit sich führte in der Absicht, es den anderen als Ersatz für einen echten Hahn zu präsentieren und damit dennoch großen Eindruck zu machen. In dieser Einschätzung hatte er sich aber verrechnet. Denn als er sich nun mit unsicheren Gebärden und Schritten aus dem hinteren linken Teil der Kirche, wo er seine Aufregung unterdrücken und sich sammeln hatte müssen und wo er, um seines Lampenfiebers Herr zu werden, noch eine der kleinen Kerzen angezündet, um gutes Gelingen gebetet und 5 Euro gespendet hatte, auf den Weg nach vorne machte, dort das Huhn einfach auf das Geländer vor dem Altar legte und dann – sterbend vor Aufregung – wieder zurückging in den hinteren Teil, da lief es vielen Anwesenden plötzlich eiskalt den Rücken hinunter. Dies war freilich nicht eine Folge der Erregung im Angesicht hemmungsloser Ausschweifungen, sondern vielmehr ein plötzlicher, panikartiger Schreck darüber, in welcher Gesellschaft man sich hier befinde. Schlagartig wurden viele Teufelsjünger von Fragen geplagt, die sie vorher unterdrückt hatten aus Vorfreude auf das, was da kommen werde: Hatte dieser Mensch noch alle Tassen im Schrank? Hatte man selbst noch alle Tassen im Schrank? Befand man sich hier in Gesellschaft von lauter Psychopathen? War man selbst ein Psychopath? Wer waren diese anderen Leute? Was passierte, wenn man nun doch wieder gehen wollte? Würde man zurückgehalten und am Ende als Abtrünniger gleich selbst geopfert? Konnten da draußen nicht weitere Satanisten warten, die einem zum Auto folgten und dort den Garaus machten? Und wenn man blieb: Wie sollte man sich verhalten? Mußte man nicht befürchten, durch die eigene Unerfahrenheit aufzufallen und dann wiederum in große Gefahr zu geraten? Mußte man nicht andererseits, wenn man in dieser schweigsamen Gesellschaft durch satanistische Aktivitäten auffiel, wiederum befürchten, daß man zum Rädelsführer ernannt würde und dann für das alles besonders zur Verantwortung gezogen werden konnte?

Mit diesen und ähnlichen Gedanken waren alle so beschäftigt, daß lange Zeit überhaupt nichts Nennenswertes geschah, vielmehr vermied es jeder, den anderen zu beobachten oder selbst beobachtet zu werden, versuchte unauffällig zu sein, indem er weiterhin an den Rändern des Kircheninnenraums blieb, dort auf und ab ging als wäre es selbstverständlich, und sich vielleicht die barocken Gemälde und Fresken mit Interesse ansah, um nicht den Blicken anderer Teilnehmer begegnen und standhalten zu müssen. Nachdem aber ungefähr eine halbe Stunde lang auf diese Weise alle einfach nur planlos in der nächtlichen Kirche herumgelaufen waren, wurde die Stimmung schier unerträglich. Es gab niemanden, der nicht unbedingt sofort nach Hause gewollt hätte, wenn es seine Angst erlaubt hätte. Allen wurde mehr und mehr klar, daß etwas passieren mußte, schon allein, weil die Geisterstunde ihren Zenit bereits übeschritten hatte und niemand wußte, was eigentlich zu tun war, wenn es ein Uhr schlug und der Satan weiter auf sich warten ließ. So hefteten sich nach und nach immer mehr Blicke auf den Priester. Je mehr dieser Blicke es waren und je öfter die Blickenden erkannten, daß auch andere den Priester ansahen, um von ihm die Durchführung von irgendetwas zu verlangen, desto schneller stellte sich nun der diabolische, nur durch Blicke vermittelte Plan aller Anwesenden (mit Ausnahme des Priesters) heraus, der da lautete: Den Priester so lange zu fixieren, bis dieser mit der schon lange verzögerten Ausführung aller möglichen Schweinereien oder auch Peinlichkeiten begann. Als schließlich die Augen aller auf dem Priester ruhten und diesem damit nur allzu deutlich machten, daß er sich in der schlimmsten Situation seines Lebens befand, da konnte der Priester schlicht nicht mehr umhin: Er nahm die letzten Kräfte seines angstschlotternden Leibes zusammen, besiegte ein letztes Mal den Drang, einfach seine Schließmuskeln zu öffnen, und machte sich wiederum auf den Weg nach vorne in Richtung auf den Altar. Dort blieb er, völlig unschlüssig und nur noch ein Schatten seines sonst so übermütigen Wesens, stehen und harrte der Dinge, die da kommen würden. Weil nun der Priester also seine Position eingenommen hatte, ergab sich unter den anderen Anwesenden wie von selbst eine zuerst leichte, dann stärkere, schließlich geradezu hektische Bewegung in Richtung auf die Kirchenbänke, wo sich alle der Reihe nach ihre auf ihre Plätze begaben. Dabei nahmen einige aus Gewohnheit, andere aus Verlegenheit beim Betreten der Bank ein Gotteslob aus dem Fach, um auch für den Fall einer musikalischen Untermalung gerüstet zu sein. Schweigend standen sie sich nun gegenüber, bis der Priester nach Äonen von tödlichen Augenblicken verstand, daß es jetzt erneut an ihm war, das Wort zu ergreifen und die Messe in das nächste Stadium zu führen. Er breitete also plötzlich, wie einer Eingebung folgend, die Arme aus und blickte nach oben in den gemalten Himmel an der Kirchendecke. Die Meute tat Selbiges. „Herr!“, begann der Priester mit einer Stimme, die so heiser war, als hätte er seit Jahren nicht gesprochen, „Herr!“……. O mein Gott!, dachte er dabei, überwältigt von der Erkenntnis, daß er nicht nur auf die Art der Durchführung der Messe, sondern auch auf die Wortwahl, die er bei seiner nun folgenden Ansprache benutzen sollte, schlicht überhaupt nicht vorbereitet war! „Herr! Wir haben uns heute hier eingefunden, um…… zu….. – beten!“ Stille. Nur das Schlottern der Knie etlicher Kirchenbesucher war zu spüren. Weiterhin vermied es jeder, den Blicken eines anderen zu begegnen, statt dessen konzentrierten sich alle darauf, den Priester weiterhin zu fixieren, diesen einzigen Rettungsanker der verlorenen Blicke! Dem Priester war dies höchst unangenehm, er fühlte eine Ohnmacht in sich aufsteigen, ermannte sich aber, um nur ja die Prozedur irgendwie zu einem Ende zu führen, und fuhr schließlich, als weiterhin keiner der Anwesenden Anstalten machte, sich helfend einzumischen, fort: „Wir – erheben – unsere – Herzen – um…..“, – hier machte er eine Pause – „zu danken! – für alles, was Du uns geschenkt hast – in Deiner grenzenlosen – Güte!“ Schweiß lief dem Priester in solchen Strömen über das Gesicht, daß er fast nichts mehr sah, er nahm indessen in der nun folgenden, schier unendlichen Pause, die alles an Peinlichkeit überbot, wovon er je gehört hatte, wahr, dass die Satansjünger still hielten. Dabei schien eine gewisse Verunsicherung unter ihnen zu herrschen. Er sammelte sich also und hob wieder an: „Laß uns eingehen – und bewahre uns – vor Verwirrung – und……“ An dieser Stelle fiel dem Priester auf, daß er sich verhaspelt hatte: Das nächste Wort wäre „Sünde“; aber war es nicht falsch, auf einer schwarzen Messe um Bewahrung vor Sünde zu bitten?….

Doch da kam ihm endlich, endlich die Gemeinde oder der Zufall zu Hilfe: Eine der im Kirchenschiff versammelten Damen erlitt einen Nervenzusammenbruch! Die Situation hatte sie so lange überfordert, so lange hatte sie ihre Todesangst unterdrücken müssen, daß es jetzt aus ihr herausströmte, sie vergaß sich, sie verlor alle Hemmungen und jede Selbstbeherrschung und begann, zwar nicht laut, aber verständlich für die neben ihr Stehenden, zu stammeln: „Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name, Dein Reich komme……“ Plötzlich ging ein Ruck durch die Versammlung, die Dämme brachen, nach und nach verlor einer nach dem anderen die Beherrschung, konnte nicht mehr an sich halten und ergab sich dem, was da kommen sollte. Und so wurde der Chor immer lauter: „….Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden…..“, bis sich schließlich keiner mehr widersetzen konnte, alle sich fügten, und es wie in einem verzweifelten Taumel durch das ganze Kirchenschiff tönte: „…..unser tägliches Brot gib uns heute……“

Der Jäger Michael Angerer war schon seit Längerem einem kapitalen Hirschen auf der Spur. Dieses Exemplar, das wesentlich größer war als die normalerweise in der Gegend verbreiteten, mußte sich wohl aus anderen Regionen, wahrscheinlich aus östlichen Gebieten, hierher verirrt haben und versuchte offenbar, sich in den umliegenden Wäldern heimisch zu machen. Es war ein einmaliges Tier, wie man es noch nie gesehen hatte, mit einem dunklen, fast schwarzen Fell, das einen Stich ins Rötliche aufwies, rotglänzenden Augen, in denen ein Feuer zu brennen schien, und einem riesigen Geweih, bei dem neben den vielen Enden vor allem die beiden Spitzen auffielen, die sich dreiteilten und als Dreizacke weit in die Höhe standen. Obwohl es auf einem seiner Beine lahmen zu schien und dieses hinterherzog, war es von außerordentlicher Schnelligkeit und Wendigkeit. Da die Trophäe, das Geweih dieses Hirschen, einem jeden Jäger zur Ehre gereichte und es nur eine Frage der Zeit war, bis ein anderer den goldenen Schuß wagen würde, hatte Angerer am vorigen Abend beschlossen, in der kommenden Nacht auszuziehen und zu versuchen, das Tier, das sicherlich des Nachts an den Futtertrögen oder an anderen, häufig von seinen Artgenossen frequentierten Plätzen anzutreffen war, ausfindig zu machen und zu erlegen. Er hatte sich also gegen Mitternacht aufgemacht und war zu Fuß von seinem etwas weiter der Stadt zu gelegenen Dorf in Richtung auf den großen Wald marschiert, tief versunken in Gedanken über das Hallo am Jägerstammtisch, das herrschen würde, wenn er den Kollegen das Geweih präsentierte. Er näherte sich gerade dem Wald, da dachte er daran, daß hier die kleine Kirche lag, die bei den Einheimischen in besonderem Ansehen stand. Er lenkte seine Schritte in Richtung auf das Gotteshaus, um dort noch kurz und andächtig für das Gelingen seines Planes oder gar eine Freikugel zu beten. Schwarz und mächtig lag die Kirche nun vor ihm, und nur das schwache Kerzenfeuer der Ewigen Lichter drang durch die Scheiben ins Freie. Angerer öffnete die schwere Holztür – und blieb wie angewurzelt stehen: Da knieten etliche Personen, die meisten ganz in Schwarz gekleidet und sogar vermummt, mitten in der Nacht in der Kirche, und hatten ganz offenbar gerade das Vaterunser gebetet! In der Mitte, nahe des Altars, aber an einem Ort, an den der Priester normalerweise während der Messe gar nicht kam, stand eine Gestalt in einem schwarzen Umhang, offensichtlich doch der Priester, mit einer Maske vor dem Gesicht und ausgebreiteten Armen! Auf dem Geländer vor dem Altar lag eine hellbraune, unförmige Masse, von der Angerer anfangs nicht recht wußte, um was es sich handelte…. Dann aber glaubte er, ein totes, gerupftes Huhn zu erkennen! Die Augen aller Anwesenden waren nun auf ihn gerichtet…..

Einen Augenblick lang war Hinteregger wie betäubt, dann aber reagierte sein Geist blitzschnell und er begriff wie in einem großen Zug, was diese nächtliche Versammlung darstellte: Oft schon hatte er von den verrückten Städtern gehört, die zum friedlichen Leben auf dem Land überhaupt keinen Bezug mehr hatten! Während es auf dem Land die selbstverständlichste Sache der Welt war, daß die Tiere ihr eigenes Leben führten und dass dabei viele von ihnen im harten Daseinskampf unterlagen und also verschieden, ohne daß jemand Notiz von ihnen genommen hätte, entwickelten diese Städter zu einzelnen Tieren eine so herzliche Beziehung, daß sie, wenn diese Tiere starben, um sie weinten wie um verstorbene Mitmenschen! Es mußte sich hier um eine Gruppe von Leuten handeln, die dabei so weit ging, sich sogar angesichts des Todes eine Huhnes aufs Tiefste betroffen zu fühlen, und die deshalb, in einer großen Vermenschlichung der Natur, diesem Huhn ein feierliches Begräbnis zuteil werden lassen wollte! Angerer war von Natur aus ein sehr toleranter Mensch, er verstand die Verrücktheit der Städter zwar nicht, wußte aber, daß sie auch Vieles richtig machten und zum Beispiel das Fernsehen erfunden hatten; und so beschloß er, sie mit Respekt zu behandeln und ihre Empfindungen nicht zu stören. Kurz entschlossen führte er also seine Hand zu einem halbmilitätischen Gruß an die Stirn, schritt dann, eine feierliche Haltung einnehmend, unter den Blicken aller Anwesenden in der Mitte der Kirche bis zum Weihwasserbecken, bekreuzigte sich mit einem Kniefall und sagte laut und deutlich zu der Trauergemeinde: „Mein Beileid!“. Dann machte er, wiederum mit zackigen Schritten, kehrt und verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, das Gotteshaus.

Beschwingt von seinem fast schon imponierenden Auftritt lenkte er seine Schritte daraufhin in Richtung auf den Wald. Doch bald schon überkamen ihn merkwürdige Gedanken. Anstatt an das Erjagen des Hirschen zu denken, wie er es ursprünglich vorgehabt hatte, erkannte er in sich ein Gefühl von tiefer Rührung über diese Menschen: Offensichtlich waren sie so sehr von Mitleid und Liebe erfüllt, daß sie sich um jede Kleinigkeit der Schöpfung kümmerten und freuten und sogar einem Huhn die Würdigung seiner Persönlichkeit und tiefen Respekt zukommen ließen! Eine Weile ging er noch, in diese Gedanken versunken, dann hatte er die Gewißheit, daß er es heute nicht übers Herz bringen würde, den Hirschen zu erschießen! Er machte also kehrt und nahm Kurs auf sein Zuhause….. In tiefen, glücklichen Empfindungen schwelgend atmete er dabei die gute Nachtluft ein und genoß jedes Detail der wunderbaren Natur und des Himmels über ihm, der von guten Geistern erfüllt zu sein schien…….

Aus der Tiefe des schwarzen Waldes wurde er dabei von einem Paar rotfunkelnder Augen beobachtet, und der schwere Atem des faszinierend glänzenden Tieres schien wie Rauch durch die Kälte der verlorenen Landschaft zu schneiden. Dann wandte es sich ab und zog ruhig weiter in die Unendlichkeit des Nachtwaldes…….