Auf frischer Tat ertappt

by Theos

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Niemals hätte der Polizist geglaubt, daß er sich selbst einmal bei einem Diebstahl ertappen würde.

Und doch bestand kein Zweifel, daß er, der gerade noch langsam, in Ausübung seiner Pflicht, die langen Gänge des Kaufhauses abgeschritten war und seine Aufmerksamkeit ganz auf die Kunden gerichtet hatte, jetzt sehen mußte, daß seine Hand in der im ersten Stock gelegenen Süßwarenabteilung sich unauffällig nach einem Schokoladenriegel ausstreckte und diesen mit gekonnter Bewegung im Jackenärmel verschwinden ließ.

Er konnte schlicht nicht glauben, was er sah, brauchte einen Moment, um sich zu vergewissern, daß er sich nicht täuschte, und diesen Moment lang konnte er, perplex, gar nicht auf das Geschehen reagieren. Dann aber wurde ihm klar, daß es nicht nur seine moralische, sondern auch seine dienstliche Pflicht war, derlei Vorgänge kompromißlos zu unterbinden und die Delinquenten einer gerechten Strafe zuzuführen, und so schrie er sich laut an: „Halt! Im Namen des Gesetzes, Sie sind verhaftet!“, wobei er sich sicherheitshalber mit festem Griff am Oberarm faßte. Er schien einen Augenblick lang ohne Gegenwehr klein beizugeben, dann aber riß er sich mit einer plötzlichen Bewegung los und versuchte davonzurennen. Darauf hatte der Polizist nur gewartet: Mit einer blitzschnellen Bewegung folgte er sich wie sein Schatten und stürzte sich auf sich, wobei er sich dieses Mal am Kragen packte und hin- und herschüttelte. Kurze Zeit rang er heftig mit sich, wobei er zu Boden gerissen wurde und sich dort hin- und herwälzte. „Widerstand ist zwecklos!“ rief er laut, um die Lage auch verbal in den Griff zu bekommen. Doch nach kurzer Zeit erwies es sich, daß der Dieb, der vor Anstrengung schwer keuchte, die Oberhand gewann und sich erneut loszureißen drohte. Zielstrebig schleppte er sich in Richtung auf die Treppe, die ins Erdgeschoß führte, aber der Polizist hielt sich mit aller Gewalt an seinem Hals fest und versuchte so die Flucht zu verhindern. Als er an den Treppenabsatz kam, klammerte er sich mit einer Hand am Geländer fest und ließ nicht los. Der Dieb packte daraufhin seine Hand und versuchte sie vom Geländer zu reißen, und als sei dies nicht genug, ging er auch noch mit dem Kopf in Richtung auf das Geländer und biß mit aller Macht in seine Hand. Der Polizist wollte trotz des unglaublichen Schmerzes auf keinen Fall loslassen, und so trat er mit den Beinen wild um sich und versuchte sich empfindlich zu treffen. Er sah dabei die Umstehenden, die aus den anderen Gängen herbeigeeilt waren, und wie sie initiativenlos um die Szene herumstanden. Er hätte ihnen zurufen wollen, daß sie ihm gefälligst helfen sollten, doch es wurde ihm unterbewußt klar, daß er von ihnen keine Hilfe erwarten konnte. So versuchte er weiterhin, sich mit einem Fußtritt am Kopf zu treffen, der nunmehr mit aller Macht treppabwärts strebte und sich auf diese Weise zum Loslassen des Geländers zwingen wollte. Die nach unten strebende Kraft war jetzt einfach zu groß, und so mußte er, einsehend, daß es keinen Sinn mehr hatte, das Geländer doch loslassen, woraufhin er mitsamt sich selbst durch die Wucht des Zuges fortgerissen wurde, die Treppe hinabfiel und unten auf dem Treppenabsatz zu liegen kam. Der Dieb nahm nun blitzschnell reißaus, der Polizist konnte nur noch laut „Haltet den Dieb!“ rufen und sich mit letzter Energie an die Verfolgung machen. Doch er ließ sich nicht entkommen: Obwohl er nun mit großen Schritten dem Ausgang zustrebte, konnte er sich noch von hinten am Kragen packen und ließ sich unter lautem Geschrei, wildem Umsichschlagen und hektischer Prügelei zum Ausgang schleifen. Dort holte er mit letzter Kraft aus und versetzte sich einen extrem wuchtigen Kinnhaken, mit dem er sich zu Boden streckte. Er warf sich auf sich, und obwohl ihm einen Augenblick lang die Sinne schwanden, gewann er, sich von hinten in den Polizeigriff nehmend, die Kontrolle über sich selbst. Einen Augenblick lang konnte er sich so festhalten, daß er sich nicht mehr bewegen konnte, dann aber konnte er sich befreien und entwand sich gekonnt seinem Polizeigriff. Er nahm die Beine unter den Arm und lief mit großer Geschwindigkeit davon; dabei folgte er sich in kurzem Abstand und versuchte, sich unauffällig zu beschatten, bemerkte sich aber dabei. Schließlich mußte er sich an einer Straßenecke endgültig entkommen lassen.

Aus Scham über seine Niederlage erstattete er später keine Meldung über den Vorfall, aber er war sicher, daß er den Dieb wiedererkennen würde, und, indem er sich vornahm, daß er es sich bei einer eventuellen nächsten Begegnung mit gleicher Münze heimzahlen würde, biß er zufrieden in den Schokoladenriegel.